Die Schranke

Das Martyrium

Über die Bahnschranke darf der Junge nicht gehen. Seine Eltern haben es ihm verboten.
Die Schranke ist Tabu.
An diesem Tag ist alles anders. Viel zu spät bemerkt er, wie weit sie schon gegangen sind.

Während er und K. sich immer weiter von der Ortschaft entfernen, durchfährt ihn plötzlich eine fürchterliche Erkenntnis.

„Ich muss jetzt nach Hause“, sagt er laut und versucht in die Gegenrichtung zu flüchten.
„Nein, du kommst mit“, faucht K.

K. hält ihn am Arm fest und zieht gleichzeitig sein Messer heraus.
Der Junge fängt an, laut zu schreien.
„Hör auf zu schreien, sonst zeige ich dir, wie scharf die Klinge ist.“

In diesem Augenblick weiß der Junge, dass er verloren ist. Er weiß, dass es eine Falle ist und er weiß, dass niemand ihn retten wird. Er weint. Seine Kräfte verlassen ihn.

Schnellen Schrittes gehen sie weiter.
K. hält ihn mit einem eisernen Griff am Arm fest.

Ab und zu blickt der Junge verzweifelt zurück und beobachtet, wie die Häuser immer kleiner werden. Er ist durstig.

Endlich erreichen sie eine – durch dichtes Gebüsch und einige Bäume – versteckte Senke.

Auf den Fahrradtouren, die er am Wochenende mit seiner Familie unternimmt und die oft durch diese Gegend führen, ist ihm dieser Ort nie aufgefallen, denkt der Junge noch.

In der Mitte dieser verbogenen Wildnis erblickt man das Stück eines großen Kanalrohres mit einem Durchmesser von vielleicht 1.60 Meter. Auf einer Seite ragen lange, verrostete Metallstifte heraus.
Die Augen des Jungen weiten sich vor Angst.

„Geh da rein“, befiehlt K.
Der Junge wehrt sich, er will da nicht rein.
K. reißt einen großen, biegsamen Stock von einem Baum herunter. Er schneidet die grünen Triebe ab und spitzt das Holz an. Dabei lässt er den Jungen nicht aus den Augen.

„Geh da rein“, befiehlt er nochmal und schlägt den Jungen dabei mit dem Stock.
Wimmernd gehorcht er schließlich.

„Lass mich raus, ich hab dir nichts getan!“
In den nächsten Stunden wird der Junge diesen Satz wie ein Gebet wiederholen.

Der Junge rechnet nicht mehr damit, dass er noch entkommt.
Sein Körper ist voller Wunden und Hämatome. Bald wird es dunkel und er überlegt sich, ob sie ihn wohl schon suchen.

über den Autor

Mathias Guthmann

Mathias Guthmann schreibt für kulinarische und literarische Zeitschriften und den Schachsport.
Seine Essays und Kurzgeschichten, Kritiken und Interviews haben eine hohe Reichweite und werden in verschiedensten Fachmagazinen, auch international, publiziert.

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