Eine kulinarische Weihnachtsgeschichte

Die Erzählungen von Charles Dickens haben mir in der Kindheit Angstschauer über den Rücken gejagt. Obwohl ich nie in London gelebt habe und die Gerüche dieser alten Stadt nur in meiner Vorstellung existierten, fühlte ich mich damals bei der Lektüre, als sei ich eine der Figuren in der Geschichte.
Es war, als würde ich jeden Winkel, jede Straße und jede verlotterte Spelunke mit eigenen Augen sehen.

Schließlich wurde ich in meiner Phantasie abwechselnd zum Betteljungen, zu einem Taschendieb oder zum Adjutanten in einer kargen Kanzlei.

Die Weihnachtsgeschichte beschäftigt mich bis heute, meine Sinne sind für die depressive, neblig-düstere Grundstimmung der Erzählung empfänglich.
Die zauberhafte Auflösung mit der Versprechung eines besseren Menschen sollte allen ruchlosen Bankern und impertinenten TV-Köchen schlaflose Nächte bereiten.

Der Geist der vergangenen Weihnacht

Der Geist der vergangenen Weihnacht sieht aus wie Wolfram Siebeck. Gerade spricht er über eine Weihnachtsgans:

„Ich mache keine Weihnachtsgans mehr, dieser Zeitpunkt ist seit gestern Abend in weite Ferne gerückt. Ich war in einem Gasthaus, wo es Gänsebraten gab, es war alles tadellos gemacht, aber die Brust die ich da auf dem Teller hatte war hart, ja sie war hart und saß mir zwischen den Zähnen, was ist das?“

Flucht weiter:

„Ist kein Genuss! Wahrscheinlich war die Keule dieser Gans weich und saftig, das kann sein, aber sie wissen da nicht was sie kriegen, kriegen sie ein Stück von der Brust, ein Stück von der Keule was weiß ich? Ich habe nun mal die Brust gehabt! Jede Poularde ist besser. „

Etwas resigniert:

„Aber die Ente war wunderbar!“

Ich schweige und atme tief durch: Brust oder Keule, Poularde oder Ente?

In der Küche wird es plötzlich eiskalt. Wie von Geisterhand erlischt die Gasflamme mit der sanft köchelnden Vanille-Creme à la Lenôtre.

„Verdammt“, denke ich, das muss Dollase sein, ausgerechnet jetzt, wo Siebeck da ist und statt Kalb mit Elementen von Zunge und Bries hab ich nur Schweinehack im Kühlschrank. Eine Katastrophe!

In Super-8 Qualität sehe ich die fade Bolognese, die ich seinerzeit einem guten Freund aufgetischt habe, langsam an meinen Augen vorbei ziehen. Schemenhaft erkenne ich Dollases Gesicht in einer grünen Wolke über der Dunstabzugshaube, er sagt mit rauchiger Stimme:

„Waaallnstein, Tiiiiiim Raaaaue, Destillaaaaat, Waaaaldboden, Roootationsverdampffffer.“

Ich versuche mit bloßen Händen die riesige, pastellblaue Küchenmaschine aus der Verankerung zu reißen, das hat noch niemand geschafft, nicht mal der Häuptling aus Einer flog über das Kuckucksnest.
Die Maschine scheint eine Tonne zu wiegen, obwohl es sich um eine Standard-Kitchenaid handelt.
Ich scheitere daran, ich zerbreche, ich verzweifle, warum versuche ich sowas überhaupt? Delirium?

Plötzlich brüllt Dollase aus seiner Wolke:

“ Ich kenne keinen Siebeck, wer ist Siebeck? Ich bin Krtitikikiker, Siebeck ist ein Meckeckeckerer“. 

Ja hört denn dieser Alptraum nie mehr auf?

Ich werfe mich auf den Boden und entschuldige mich für das Mousse au Chocolat, das ich kürzlich gedankenlos gemacht habe, für die Qualität der Kartoffeln die ich manchmal verwende, sogar für eine Fertigpizza die ich im Wahn gegessen habe, die Tränen laufen mir über das Gesicht, es ist alles zu spät.
Schweißüberströmt erwache ich aus diesem realistischen Traum.

Der Geist der gegenwärtigen Weihnacht

Bei einer Tasse Kaffee aus meiner japanischen Maschine notiere ich mir das Rezept für den restlichen Tag.
Auf jeden Fall Snail Porridge, die Herstellung ist zermürbend. Vor langer Zeit habe ich das Gericht anlässlich eines Umami-Kurses in Kyoto zubereitet.

Damals lud mich Tanaka zum Frühstück im Tempel ein. Wir saßen im Schneidersitz an einem niedrigen schwarzen Lacktisch mit alt-japanischen Samurai Szenen. Die Geisha brachte uns Schüsseln mit einem Reis der stundenlang in  Dashi erwärmt wird und sich dabei fast dematerialisiert.

Ich schmecke immer noch den getrockneten Bonito mit den Algen und der winzigen Menge goldbraunen Fonds der auf der weißen Masse flimmerte, pures umami.
Da läutet es an der Türe, ich öffne. Eine manngroße graue Schnecke, die so aussieht wie Heston Blumenthal, spricht zu mir:

Ceci n’est pas du porridge

Reflexartig greife ich zur Kräuterbutter, aber gleich wirft mir das Vieh eine Ladung Schleim ins Gesicht.
Ich biete der Schnecke einen Kaffee an, um das Eis zu brechen, sie lehnt dankend ab. Von Minute zu Minute steigt der Schleim langsam die Wände hoch.

Snail Porridge,  ein echtes Kunstwerk, eine transzendente geschmackliche Erfahrung, love it or leave it.
Die Schnecke durchbohrt mich mit ihrem Blick, ich werde ganz müde und bin auf einmal im Münchner Hofbräuhaus.

Ich studiere die Speisekarte: Espuma von der Schweinshaxn, Bier-Kaviar auf Limoncello Sorbet, Radi-Gelée, ein Haferl Lachs im Lakritzmantel, Mazerierte Erdbeeren. An den hochglanzpolierten Tischen sitzen Männer mit bierseligen Augen und nippen am Kaviar, ihre Blicke haben etwas Melancholisches, wie eine Asche um den Vulkan, dazwischen aufgeregte Bedienungen die sich gegenseitig Zahlen zuschreien: „12 an 4 und die Erdbeeren, 5 an 6 aber ohne Limone“. Kann man das typisieren, katalogisieren, ein Rezept schreiben? Nein, also wieder ein Traum. Endlich wache ich auf.

Der Geist der zukünftigen Weihnacht

Verwirrt sehe ich mich um, tatsächlich bin ich im Hier und Jetzt, keine Wahnvorstellungen, alles scheint still und friedlich.

Da kommt Tim Mälzer herein, ich habe nie im Leben ein so weißes Gesicht gesehen, selbst die Gesichter der Toten haben mehr Farbe, als dieses zahnlose Antlitz. Im Schlepptau hat er Frank Rosin und Lea Linster. Frank Rosin zischt wie eine hübsche schwarze Dampflok vor sich hin:

„Gaumensex, Gaumensex, Gaumensex“. Dabei wippt er elastisch in den Knien, zieht fröhlich an einer imaginären Schnur und hupt wie ein Wilder.


Lea sagt:

„Schlag ihn bis er die Konsistenz von Rasierschaum hat, ich kann ihn dann verarbeiten“.

Sie ist ungeheuer dick und es scheint, als würde sie von Minute zu Minute weiter aufgehen, wie ein Soufflé bei 160°c kurz vor dem Servieren, sie verströmt den Duft von Vanille, Eiern und Orangen-Likör.

Rosin redet laut mit tiefer, vibrierender Stimme: „Gaumensex, Gaumensex.“
Das Trio setzt sich an den Küchentisch, in der Mitte thront majestätisch die Linster, ich habe genau 60 Minuten Zeit einen Löffel anzurichten.

Was soll ich nur kochen? In der kurzen Zeit kann ich unmöglich das Snail Porridge schaffen, also werde ich einen Parmesan-Schaum mit Jakobsmuscheln, Altbier-Gelée mit Aromen von Zimt und Chili zubereiten, einfach, ehrlich, rustikal, weihnachtlich.

Aus dem Off höre ich die Stimme von Jamie Oliver: „Mehr Chili, mehr Chili“, krächzt er, „hat meiner Tochter auch nicht geschadet“.
Der Löffel ist fertig, ich stehe in einem klaustrophobischen Fahrstuhl in Röhrenform, die Regie spielt die Stimmen der Jury ein.

Ich höre Mälzer toben:“Verdammte Axt, scheissbrachiale Inkompetenz, The Taste ist ein knüppelhartes Ding und ihr gebt einen Stern obwohl das überhaupt nichts mit dem Thema zu tun hat?“.
„Welches Thema?“, frage ich mich. Ist ja auch egal, Hauptsache raus hier.

Lea Linster erwidert: „Aber die Konsistenz ist schön schaumig, also mir gefällt das.“ Rosin:“purer Gaumen… .“

Die Tür öffnet sich und ich trete in gleißendes Licht, Lea liegt röchelnd am Boden, die Jakobsmuschel war dann wohl doch zu viel. Rosin schlägt Mälzer die letzten Zähne aus und wird dabei von Jamie Oliver angefeuert:“ Gib dem Sack Chili, los, gib ihm Chili“.
Angewidert von der Szene schreibe ich mich schnell in meine Wohnung.

Auf der tief verschneiten Straße steht ein Junge, ich reiße die Fensterläden auf und rufe ihm zu: „Hey Junge, gibt es beim Gemüsehändler da vorne noch diesen riesigen Wirsing, diesen knackigen Wirsing, groß wie ein Kalb?“ Verdutzt schaut mich der verdreckte Kerl an und stammelt: „Ja Master, ich glaube den gibt es noch.“

„Hier sind zwanzig Euro, hol mir den und behalte den Rest!“ Schnell wie der Blitz verschwindet das Kind in den weißen Gassen der Stadt, und schon wenig später duftet es verführerisch nach Wirsing.

Ich mache mich auf in die Nacht, und verteile den Wirsing an die Menschen, die mich mit dankbaren Augen ansehen.
Endlich bin ich glücklich, in meiner neuen, veganen Existenz.

über den Autor

Mathias Guthmann

Mathias Guthmann schreibt für kulinarische und literarische Zeitschriften und den Schachsport.
Seine Essays und Kurzgeschichten, Kritiken und Interviews haben eine hohe Reichweite und werden in verschiedensten Fachmagazinen, auch international, publiziert.

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