Kürzlich fahre ich mit dem Zug von Berlin nach Karlsruhe, im Gang drängen sich viele Menschen mit Koffern, endlich gibt es ein Abteil, wo sich zwei junge Frauen angeregt unterhalten.
„Entschuldigung, ist hier noch frei?“
Die beiden unterbrechen ganz kurz ihr Gespräch, blicken mich prüfend an und deuten lächelnd auf einen Platz schräg gegenüber.
Während der Zug durch eine sonnige, leicht verschneite Puderzucker-Landschaft rauscht, verstaue ich das Gepäck und krame eine Zeitung aus der Tasche hervor. Lustlos schlage ich eine Seite auf und überfliege die Schlagzeilen, obwohl gerade am Bahnhof gekauft und noch nicht gelesen, kommt mir der Inhalt des Blatts bekannt vor. Ich lausche lieber dem Gespräch der beiden Frauen.
„Ich war im Phantom der Oper“.
Nach einem tiefen Seufzer die andere:
„Oh wie schön, ich mag Musicals.“
„Die Liebe, das Phantom und der Tod, einfach romantisch“,
spricht eine der beiden Frauen und blickt dabei sehnsüchtig aus dem Fenster.
„Ja, ich bin noch immer ganz hingerissen von der Geschichte, hast du auch Mitleid mit dem Phantom?“
Die andere senkt kurz die Augenlider, entgegnet dann aber lebhaft und energisch:
„Nein, überhaupt nicht, für das eigene Unglück darf man nicht die anderen zur Verantwortung ziehen.“
Eine der Frauen fragt:
„Warst du auch in Hamburg bei der Inszenierung von Manfred W. von Wildemann mit Philipp Landgraf als Phantom?“
Mit einem verschwörerischen Unterton die andere:
„Natürlich, für mich ist das die beste Vorstellung, Landgraf ist fantastisch und die Magdalena Moty als Christine, ein Traum!“
Unvermittelt, als würde ein unsichtbarer Dirigent den Taktstock heben, singen beide Frauen ein wunderbares Duett:
„Dein Geist und mein Gesang, so wirken wir. Ganz nah ist das Phantom der Oper da, es lebt in mir.
Sing, mein Engel der Muse, sing mein Engel, sing für mich!“
Derweil macht sich der imaginäre Beobachter in meinem Kopf ganz ungeniert über das Genre Musical lustig. Geschmackssache.
Wir erreichen Hannover, der Zug wird langsamer und rollt in den Mastenwald des Bahnhofs ein. Ich nutze den Rhythmuswechsel und flüchte in das Bordbistro.
Bei einem Glas Riesling suche ich im Internet nach dem „Phantom der Oper“ und studiere den Plot.
Es handelt sich um eine Schauergeschichte von Gaston Leroux. In einem Pariser Opernhaus häufen sich seltsame Vorfälle, jemand terrorisiert die Künstler, die Mitarbeiter und die Direktion mit seltsamen Briefen und Erpressungen (unterzeichnet stets mit Ph.d.O).
Man munkelt von einem „Operngeist“, von einem Phantom, das überall und nirgends ist und wie eine lebende Leiche aussehen soll.
Es gibt eine ominöse Loge 5, die stets für den persönlichen Bedarf des unheimlichen Mieters freigehalten wird.
Schließlich entführt das Phantom das unscheinbare Chormädchen Christine, um aus ihr eine Konzertsopranistin zu machen, Hintergedanken nicht ausgeschlossen.
Der Autor streut Bombendrohungen, Frauen, die durch Spiegeltüren verschwinden, geheime Knöpfe und vieles mehr in die Handlung mit ein.
Nachdenklich schaue ich aus dem Fenster und beobachte ein Auto, das exakt mit der gleichen Geschwindigkeit auf einer Straße parallel zum Zug fährt.
Der optische Effekt ist verblüffend, es scheint neben uns zu stehen, während die Landschaft nach hinten fliegt.
Diese Reise beschäftigt mich noch eine ganze Weile.
Sollte es in meiner Vorstellung etwa auch Phantome geben? Eine imaginäre Loge 5? Dinge die ich ablehne, nur, weil ich sie nicht kenne oder Angst davor habe?
Gibt es Vorurteile, die meinen Horizont einschränken?
Ich beschließe kurzerhand mein Gehirn vom alten Gedankenschrott und zu befreien.
Nachdem ich das gemacht habe, sehe ich die Dinge klarer.
Und obwohl ich ein Opernfan bin, besorge ich Musical-Karten. Man darf im Leben nichts verpassen.