Qui est Ubu?

Das „Fin de Siècle“ war voller Skandale, so erschütterte z.B. die Dreyfus-Affaire ganz Frankreich und zog tiefe Gräben durch das Land. Emil Zola schrieb sein „J’accuse“. In England lief der Aufsehen erregende Unzuchtprozess gegen Oscar Wilde.
Die Französische Regierung kultivierte zu jener Zeit zusammen mit der katholischen Kirche eine Politik der Unterdrückung, vergessen waren die Errungenschaften der Revolution, Liberté, Égalité, Fraternité.
Unliebsame Kritiker wurden ohne viel Federlesens in die Hölle der Strafkolonien entsendet, zudem war ein latenter Antisemitismus durchaus salonfähig geworden.

Nun taucht also genau zu jener Zeit die Figur des „Roi Ubu“ zusammen mit seinem Erschaffer Alfred Jarry auf der Pariser Bühne auf, und rechnet mit den Vorurteilen, mit den Ressentiments und mit der Koketterie der Bourgeoisie auf:

Die absonderliche Erscheinung, an der alles absurd gekünstelt war, trank bei Tische zwei große Wassergläser voll Absinth, ungemischt. Nach dem Bankett bestieg dieser Clown einen Stuhl, kündete in seiner zerhackten, bizarren Sprechweise den Tod eines der Gäste an und richtete zugleich eine großkalibrige Pistole auf ihn. Dass er einen gewissen Ruf als Schütze hatte, vermehrte noch die Panik der Gesellschaft.

So schilderte, nach einer von mehreren Zeugen verbürgten Begebenheit, Frankreichs Nobel-Dichter André Gide 1925 (in dem Roman „Die Falschmünzer“) den wohl kuriosesten Kauz unter seinen Schriftsteller-Kollegen – den Verfasser des genialischen Grotesk-Klassikers „König Ubu“ und Erfinder einer eigenen Privat-Wissenschaft, der „Pataphysik“ („Wissenschaft von den imaginären Lösungen“), Alfred Jarry (1872 bis 1907).

Ubu Roi wurde am 10 Dezember 1896 uraufgeführt.
Schon das erste Wort „Merdre“, ein verballhornter Ausdruck für „Scheiße“, in etwa zu übersetzen mit „Schreiße“ oder „Scheißdre“ schockierte das Publikum.

Das Parkett tobte, es kam zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, zu Boxkämpfen und Ohrfeigen. Vom Autor engagierte agents provocateurs heizten die Stimmung im Publikum zusätzlich an.
Auf der Bühne stakkatierte der Darsteller des Ubu -ähnlich wie Jarry selbst sprach -die Sätze ins Théâtre de L’Œuvre, der Tumult war ungeheuerlich.
Erst als der Theaterdirektor das Licht löschte beruhigte sich das Publikum kurzzeitig.
Eine Ruhe die nur von kurzer Dauer war, denn das nächste „Merdre“ veranlasste die Zuschauer wiederum auf die Sitze zu steigen und die Aufführung niederzuschreien.

Diese glücklichen Ahnungslosen erlebten, ohne es zu wissen, an jenem Abend die Geburtsstunde des „Absurden Theaters“.

über den Autor

Mathias Guthmann

Mathias Guthmann schreibt für kulinarische und literarische Zeitschriften und den Schachsport.
Seine Essays und Kurzgeschichten, Kritiken und Interviews haben eine hohe Reichweite und werden in verschiedensten Fachmagazinen, auch international, publiziert.

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