Das Geheimnis des Präfekten, Kapitel 8

Auf dem Schreibtisch steht weder ein Computer noch gibt es irgend einen Fetzen Papier.
Ich durchsuche die Leiche, die Hosentaschen sind leer, keine Schlüssel, kein Handy, überhaupt nichts, auch die Hände, die schon erste Anzeichen von Leichenstarre zeigen, sind leer.

Ich rücke ein paar Schritte zurück und lasse den Blick langsam von oben nach unten über den toten Kitano gleiten. Der Mund sieht merkwürdig aus, die dünnen Lippen spannen sich grinsend fast bis zu den Ohren. Ich muss das leider näher untersuchen.

Mit dem linken Arm halte ich seine Stirn fest und versuche dabei, das Kinn herunterzuziehen.
Der Tote wehr sich nach Kräften, so sehr ich mich auch anstrenge.
Mit aller Gewalt versuche ich seinen Mund aufzuklappen, es will mir nicht gelingen. Ich höre, wie Kitanos Knochen zersplittern, ich vermute, dass das bei dieser Aktion sein Genick gerade gebrochen ist.

An der Wand hängt ein kleines Samurai-Schwert, das ich mir greife.
Mit der stumpfen Seite schiebe ich es zwischen seine Lippen und bewege es hin und her, als würde man versuchen, eine störrische, verrostete Blechkiste zu öffnen.

Endlich tut sich ein Spalt auf.
Mit dem Finger untersuche ich sorgfältig den Mundraum. Es ist nichts zu finden. Ich schiebe die Hand tiefer in den Hals und strecke den Zeigefinger in die Speiseröhre.

Ein kleiner Gegenstand ist dort eingeklemmt, ich ziehe ihn durch den Rachen ins Freie. Es ist eine Micro SD Karte.
Schweißüberströmt ruhe ich mich einen Augenblick aus.

Mein Anzug ist voller Blut und Schleim, die Haare sind verklebt, die Hose mit Flecken übersät.

Ich laufe an der toten Sekretärin vorbei zum Gang und schaue in alle Richtungen. Niemand ist zu sehen, vorsichtig setze ich mich in Richtung Aufzug in Bewegung.
Es scheint niemand unterwegs zu sein, Corona hat die Angestellten in das Home-Office gejagt.
Die Situation hat mich in tiefe Niedergeschlagenheit versetzt, in einen somnambulen Zustand, in dem ich nicht mehr Herr meiner Sinne bin, es ist eine Art Betäubung, die nicht weichen will. Der Anblick des abgetrennten Kopfes der Sekretärin auf dem Schreibtisch hat sich im Gehirn festgebrannt.
Ich muss hier raus.

Mit dem typischen Klingelton hält der Aufzug auf dem Stockwerk, wie paralysiert starre ich auf die Türe, die sich mit einem leisen Zischen öffnet.
Ich sehe den breiten Rücken einer fülligen Frau in einem grauen Kittel, sie zieht ein hellblaues Plastik-Gefährt mit einem großen, roten Putzeimer aus dem Aufzug heraus. Langsam dreht sich mit dem Wagen zu mir um und blickt mich mit aufgerissenen Augen erstaunt an.
Ohne mich aus den Augen zu lassen rennt sie samt ihrem Wagen an mir vorbei in Kitanos Büro.

Wenige Sekunden später hört man schrille Schreie, ich muss abhauen. Schnell flüchte ich in den Aufzug und drücke auf den Knopf für das Erdgeschoss. Sofort ertönt eine helle Sirene durch das ganze Gebäude.
Aus dem Lautsprecher ertönt eine Stimme:
„Achtung! Notfall im Gebäude, bitte bleiben Sie in den Räumen, der Eingang wird zur Zeit durch unser Sicherheitspersonal gesichert, es gibt keinen Grund zur Panik.“

Verdammt, schwer hier rauszukommen denke ich. Auf einer Tafel im Aufzug steht, dass es im 30. Stockwerk ein Restaurant gibt, ich drücke den Knopf und steige dort aus.

An den Tischen sitzen Geschäftsleute, die sich, aufgeregt über die überraschende Störung ihrer täglichen Routine, wild gestikulierend unterhalten. Unbemerkt schlüpfe ich durch den Trubel hindurch zu einer Türe mit einem Schild „Nur für Personal.“

Der karg ausgestattete Raum ist verwaist. An einem Haken an der Wand hängt ein Mantel den ich mir überziehe, außerdem finde ich noch eine schwarze Kochmütze. Meine verdreckten Klamotten entsorge ich in einem Mülleimer.
Im Restaurant wird noch immer heftig diskutiert, die Sirene faucht durch das Gebäude wie eine wütende Kobra.
Auf der Serviertheke steht ein unberührtes Tablett mit einem Essen, ich greife es mir und gehe zum Aufzug.

über den Autor

Mathias Guthmann

Mathias Guthmann schreibt für kulinarische und literarische Zeitschriften und den Schachsport.
Seine Essays und Kurzgeschichten, Kritiken und Interviews haben eine hohe Reichweite und werden in verschiedensten Fachmagazinen, auch international, publiziert.

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