Sie musste die Nacht mit ihm verbringen. Man tat so, als sei nichts gewesen, Business as usual.
Um wieder normal denken zu können, stellte sie sich am nächsten Morgen fast eine Stunde unter die heiße Dusche. In der Folge entwickelte sie eine Art Sauberkeitswahn.
Nachts konnte sie nicht mehr richtig schlafen.
Eines Tages traf sie Tanaka. Er versprach ihr eine bessere Zukunft. Er hatte Geld.
Sie fuhren zusammen mit dem Auto durch halb Europa.
Sie reisten nach Andalusien.
Es war Mai, in der Nähe von Algeciras fuhren sie durch ein Meer aus weiß-gelben Margeriten. Die Landschaft wogte mit dem Wind aus den Bergen hin und her und wechselte mit dem gleißenden Sonnenlicht ständig seine Farbe.
In dieser wunderbaren Vegetation sah man smaragdgrüne Inseln mit weißen, irrlichternden Punkten die oft die Position veränderten.
Ab und zu wurde die Landschaft von Palmenhainen und kleinen Pinienwäldern unterbrochen.
Irgendwann verließen sie die dünn besiedelten Berge und erreichten die Bucht von Cádiz.
Sie rollten durch Fischerdörfer mit weiß gekalkten Häusern. In Cádiz fanden sie ein wunderbares Hotel am Rande der Altstadt.
Vielleicht war sie an jenem Abend sogar ein wenig in Tanaka verliebt. Er sprach nie viel, wenn sie zusammen waren, das empfand sie als angenehm.
Bald heirateten sie, obwohl sie nichts über ihn wusste.
Er nahm sie mit nach Kyoto in dieses riesige Haus. Es war abgelegen, aber sie ging jeden Tag zu den Stallungen, um die Pferde zu betrachten oder einen Ausritt zu unternehmen. Tanaka war oft unterwegs, sie verbrachte viel Zeit alleine.
Er verlangte Loyalität. Widerspruch war ihm zuwider.
Als sie sich im Hotelzimmer die Haare kämmt, klingelt das Telefon. Tanaka ist dran.
„Hast du die Nachrichten angeschaut?“, fragt er scharf.
„Nein Kaito, ich habe noch überhaupt nichts gesehen heute, ich habe auf deinen Anruf gewartet, was hast du mit ihm vor?“
„Schalte den Fernseher an, schnell“, erwidert er hastig.
Nina gehorcht.
Es gibt eine Meldung von einem Zwischenfall im gleichen Gebäude, wo M. Das Päckchen abgegeben hat.
„Du siehst hoffentlich, was da los ist, verschwinde schnell aus dem Hotel, ich lasse dich abholen“, sagt Kitano mit heiserer Stimme.
„Nein“, sagt Nina energisch, „ich muss auf ihn warten, wir müssen ihm helfen, das können wir nicht machen, lass uns erst herausfinden, was passiert ist.“
„Du verschwindest da jetzt sofort, alles andere entscheide ich später, ich bin noch im Krankenhaus.“
Nina erstarrt, ihre Lippen sind zugeschnürt, kalter Schweiß rinnt ihr über die Stirn.
Sie ist paralysiert, ausdruckslos starrt sie auf die Wand. Sie setzt sich taumelnd auf den Bettrand. Ein Abgrund öffnet sich, ihr zentrales Nervensystem gerät außer Kontrolle.
Plötzlich halluziniert sie.
Eine große Pferdeherde kommt auf sie zu.
Sie wirft sich auf den Boden, über ihr graben sich unzählige Beine in die Erde, gleich wird sie zertrampelt.
Sie sieht, wie ihre linke Hand von einem Huf zu Brei zerdrückt wird. In einem Knäuel aus Fleisch und Knochen stürzen die Tiere in einem chaotischen Haufen über sie her, sie wird darunter begraben. Sie spürt nichts mehr. Mit beiden Armen stemmt sie sich gegen das Gewicht.
Sie rollt sich zur Seite, um sich irgendwie zu schützen. Wieder und wieder rasen die Tiere wie entfesselt über sie her.
Ihre Augen sind voller Staub, sie kann den Himmel nicht sehen. Es gibt kein Entkommen.
Sobald sie den Kopf hebt, erscheint die Herde von neuem. Grinsende Pferdegesichter, Schaum vor dem Mäulern, geblähte Nüstern.
Sie greift sich an die Brust und an den Kopf. Sie schreit.
Pferde springen über sie, ein großer Schimmel trifft sie so stark am Kiefer, dass ihr die Zähne wie an einer Perlenschnur aus dem Gesicht fliegen.
Sie wacht aus der Trance auf und verlässt das Appartment.
In diesem Augenblick hasst sie Kaito, in ihrer Erinnerung verwelken die Margeriten.
Ich bin ab jetzt auf der Flucht. Und gleichzeitig auf der Jagd, nach einem Mörder.