Das Geheimnis des Präfekten, Kapitel 10

Wahrscheinlich bin ich im Delirium, vielleicht bin ich in einem Traum gefangen, dessen Bedeutung ich nicht verstehe.

Ohne die geringste Idee zu haben wo der Ausgang ist, taumle ich durch ein Labyrinth der Gefühle. In den letzten Tagen hat sich das Leben in ein Chaos verwandelt.

Alles was ich berühre, nimmt eine kriminelle Dimension an. Ich verliere die Übersicht. 

Die Welt ist im Aufruhr und ich mit ihr.

In den USA herrscht ein Präsident mit der Fratze eines Horror-Clowns. In Russland erledigt Putin mit seiner Partei die Kritiker der Oligarchie. In Deutschland haben die Populisten den Bundestag mit vielen Mandaten erobert und artikulieren sich wie erwartet anti-demokratisch.

Aus Wut, Furcht, Intoleranz und Unwissenheit entsteht ein hochexplosiver Sprengsatz, der die Kraft hat, jede Demokratie hinwegzufegen. Die Seuche ist der Brandbeschleuniger, auf den die Kraftathleten der Demagogie nur gewartet haben.

Man hofft, dass es einen Plan gibt, um die Katastrophe abzuwenden.

Die Erfahrung aus der Geschichte ist leider ernüchternd. Frappierend leichtsinnig wird die Situation betrachtet, als sei sie Lichtjahre vom eigenen Leben entfernt. Ein gefährliches Laisser-Faire, ein bestimmtes Ennui de vivre wird zur Normalität, Ziellosigkeit überall.

Dürre und Brände verwüsten fruchtbare Böden und Wälder. Verheerende Stürme fegen ganze Landstriche mitsamt ihren Populationen hinweg. Die Atmosphäre heizt sich von Tag zu Tag mehr auf.
Für den Planeten selbst ist das alles allerdings völlig unbedeutend, stoisch lässt er es über sich ergehen.

E A R T H R I S E

Am Weihnachtsabend 1968 entsteht aus der Raumkapsel von Apollo 8 ein besonderes Bild von der Erde. 

Aufgenommen hat es der Astronaut William Anders.
Das Raumschiff fliegt zum dritten Mal um den Mond, so ist es vorgesehen. Es gleitet gerade über die dunkle Seite des Erdtrabanten und ist deswegen im sogenannten Funkschatten. Für eine Weile haben die Astronauten keinen Kontakt zur Kontrollstation in Houston.

Der Flugplan der NASA erlaubt keine Verzögerung, alles läuft nach Plan.

Aus einem Impuls heraus beschließt Kommandant Frank Borman, die Anweisungen der Bodencrew zu ignorieren und dreht das Schiff entgegen der vereinbarten Route einmal elegant um die eigene Längsachse. Das riskante Manöver verbraucht etwas mehr Brennstoff als vorgesehen.
Plötzlich taucht der blaue Planet in seiner leuchtenden, fragilen Schönheit durch das kleine Bordfenster vor seinen Augen auf.
Aufgeregt ruft Borman mit lauter Stimme in das Kommandomodul:

„Oh mein Gott! Seht euch dieses Bild da an! Hier geht die Erde auf. Wow, ist das schön!“

Für einige Sekunden sind die Astronauten starr vor Sehnsucht, Liebe und Glauben.

Bordingenieur Anders zögert nicht lange, greift blitzschnell zu seiner Hasselblad-500 und versucht das Teleobjektiv aufzusetzen. Seine Hände zittern, der Schweiss unter dem Helm kriecht über seine Augen, in seine Nasenlöcher, und über seine Lippen. Endlich rastet das Objektiv im Bajonett ein. Mit letzter Kraft reißt er das schwere Gerät hoch, visiert das Ziel an und drückt auf den Auslöser.

Die Aufnahme geht in die Geschichte ein.

Es gibt noch ein paar Mond-Umrundungen und einige TV-Übertragungen aus dem All,  bei denen die Menschheit gebannt zusieht.

Zur gleichen Zeit tobt im Dschungel von Vietnam ein Krieg, der für die USA bereits verloren ist.

Diese kleine Episode erzähle ich nicht, weil ich ein großer Freund der Raumfahrt bin. Das Geld dafür könnte man auch verbrennen. Mit unserer Technik kommen wir nicht weit.

Den Mars erobern? Genau so viel Sinn würde es machen, in der Fußgängerzone einen Rentner mit dem Sportwagen zu überfahren, um dann einfach an der nächsten Ecke in aller Ruhe einen Cappuccino mit Mandelgeschmack zu trinken.

über den Autor

Mathias Guthmann

Mathias Guthmann schreibt für kulinarische und literarische Zeitschriften und den Schachsport.
Seine Essays und Kurzgeschichten, Kritiken und Interviews haben eine hohe Reichweite und werden in verschiedensten Fachmagazinen, auch international, publiziert.

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