Das Geheimnis des Präfekten, Kapitel 12

Die Frau läuft immer schneller, bis sie irgendwann, nach endlos erscheinenden Minuten:„Wir sind da“, ruft.

„Wo?“, frage ich verwundert.
„Bei deiner Bleibe.“

Wir stehen vor einem Wohnblock mit etwa 20 Stockwerken, so schätze ich. Grau, kaputt, dreckig. Vereinzelt flackert bläuliches Licht aus den Fenstern.

Die Eingang ist eine Ruine, so wie das ganze Gebäude. Glasscherben liegen überall verstreut auf dem Boden und knirschen unter unseren Sohlen.
Es stinkt nach Urin und Schnaps.

Wir laufen die Treppe hoch, der Aufzug funktioniert nicht.
Im Treppenhaus liegt ein Mann. Sein Gesicht ist mit eitrigen Abszessen übersäht. Seine Schultern sind eingefallen, der Mantel ist durchlöchert, die Hosen sind zerfranst, er trägt nichts als armselige Lumpen am Körper.

Dieses offensichtliche Elend zu sehen, ist schmerzhaft.
Die Gestalt greift nach mir und bekommt ein Bein zu fassen. Ich versuche das Gerippe von mir abzustoßen.
„Einen Schuss, ich will nur einen Schuss, gebt mir einen Schuss“, schreit der Mann und schaut mich dabei flehend an.
„Ich habe nichts“, sage ich leise und versuche mich von diesem Griff zu befreien. Das Wesen nimmt die andere Hand zu Hilfe und verstärkt seine Anstrengungen mich festzuhalten.

„Einen Schuss, verdammt, ich will doch nur einen Schuss“.
Rückwärts stolpernd, trete ich mit aller Kraft nach unten.
Endlich gelingt es mir mich zu befreien. Wir flüchten nach oben.

Hinter uns hört man seine verzweifelten Schreie: „Einen Schuss, gebt mir einen Schuss, ich will doch nur einen Schuss“.

Eilig hasten wir die Stufen empor, die Frau sagt in einem geschäftsmäßigen Tonfall:
„Wir sind da“.
Wir laufen noch einige Meter durch den langen, spärlich beleuchteten Gang im 4.Stock und halten schließlich vor einer Wohnungstüre.
Innen ist alles erstaunlich aufgeräumt und sauber.
Die Tapete an der Wand riecht so, als sei sie frisch gestrichen. Ich sehe eine winzige Küche mit einer Herdplatte und einem Kühlschrank. In der Mitte des Raumes steht ein Sofa mit einem Tisch und einem Fernseher davor. Es gibt einen zweiten Raum mit einem Bett, das so aussieht als hätte es jemand gerade neu bezogen.

„Im Kühlschrank ist etwas zu essen, wenn du noch was brauchst, ruf mich einfach an“, sagt die Frau und schreibt mir ihre Telefonnummer auf einen Zettel.

„Schließ die Türe ab, die Gegend ist nicht gerade die erste Adresse in Paris. Ach ja, ich bekomme noch Geld“, sagt sie schließlich.
Ich zahle den vereinbarten Preis und ohne ein weiteres Wort zu verlieren, verlässt mich die geheimnisvolle Unbekannte.

Ich dusche lange und lege mich danach ins Bett.

Erst am nächsten Morgen wache ich wieder auf. Im Kühlschrank gibt es alles für ein Frühstück. Bei einer Tasse Kaffee untersuche ich die Micro SD Karte.
Ich durchforste alle Verzeichnisse, nichts.

Endlich entdecke ich einen Unterordner, in dem sich einige Bilder befinden.
Ein Bild zeigt das Kolosseum in Rom, ein anderes zeigt einen mir unbekannten Planeten und schließlich gibt es noch eine Abbildung des vitruvianischen Menschen von Leonardo da Vinci.
Ich zoome mit der Onboard-Software meines Laptops bis zur maximalen Auflösung in jedes der Bilder. Nichts.
Keine versteckten Dateien, keine Texte, keine Dokumente auf der kleinen Speicherkarte.
Es ist frustrierend.

Bei den Bildern fällt mir aber auf, dass zwei Motive bekannt sind, da Vinci und das Kolosseum, die Planetendarstellung sagt mir dagegen überhaupt nichts.
Ich muss herausfinden, was es damit auf sich hat.

über den Autor

Mathias Guthmann

Mathias Guthmann schreibt für kulinarische und literarische Zeitschriften und den Schachsport.
Seine Essays und Kurzgeschichten, Kritiken und Interviews haben eine hohe Reichweite und werden in verschiedensten Fachmagazinen, auch international, publiziert.

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