Das Geheimnis des Präfekten, Kapitel 6


Man betrat eine andere Welt. Die Häuserwände sind dort von oben bis unten mit Plakaten beklebt, auf denen Texte auf Hebräisch zu lesen sind.

Unsere Dolmetscherin hat damals einige dieser Pamphlete für uns übersetzt, in Wahrheit handelt es sich dabei um Annoncen, jedenfalls in den meisten Fällen.
Da steht dann zum Beispiel: „Mein Vater ist am Samstag gestorben, wir trauern, Rabbi Abiram spricht die Gebete, am Montag beginnt das Schiwa-Sitzen“, oder auch ein wenig trivialer „ich habe dich vor langer Zeit am Schabbat vor der Synagoge gesehen, nun wird es Zeit zum Heiraten…“
Oft liest man auch Texte, in denen zum Beispiel mitgeteilt wird, das dieser junge Mann oder jene junge Frau den Wehrdienst verweigert.
Es gibt auch eindeutig regierungsfeindliche Texte, die auf diese Art und Weise publiziert werden. Die Menschen im Viertel sind furchtlos und beständig in ihren Ansichten, sagt uns damals unsere Dolmetscherin.

Vielleicht kennen Sie ja dieses seltsame Gefühl, plötzlich etwas zu durchleben, das sie bisher aus ihrer Vorstellung ausgeschlossen haben. So ging es mir an jenem Abend in Me’a Sche’arim. Ich wusste nicht genau, was ich fühlen sollte.

Wir kamen zu einer Bäckerei, einer orthodoxen Bäckerei natürlich. Dort arbeiteten nur Männer, das ist eine Ausnahme, denn in der Regel übernehmen in diesem Viertel die Frauen die Hauptarbeit.
Kinder kriegen, einkaufen, kochen und Geld beschaffen. Die Männer treffen sich in der Synagoge oder in Gebetshäusern, um dort die Schriftrollen zu studieren, die genau diesen Status Quo dialektisch zementieren sollen. Für Arbeit bleibt da natürlich keine Zeit.

In der Bäckerei war man von unserem Besuch nicht begeistert, einer der jungen Männer blies mir gleich zur Begrüßung eine große Ladung Mehl ins Gesicht und auf die Kleidung.
Sie müssen sich vorstellen, dass wir für diese Menschen nichts anderes waren, als dekadente, westliche Touristen, Gesandte des Satans, ich als Deutscher sowieso.

Ich habe gelacht und den Mann freundlich angeschaut. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich den Eindruck, dass meine Kollegen, im Gegensatz zu mir, schockiert waren.
Besonders unser Russe, er hieß Vladimir, war aufgebracht. Für ihn sollte nur das Feinste auf den Tisch kommen, in seiner Heimat hat er wohl einen gewissen Namen, jedenfalls war er sehr wütend und scheinbar unfähig, diese ungewöhnliche Situation anzunehmen. Damals dachte ich:Was bist du für ein aufgeblasener Hohlkopf!

über den Autor

Mathias Guthmann

Mathias Guthmann schreibt für kulinarische und literarische Zeitschriften und den Schachsport.
Seine Essays und Kurzgeschichten, Kritiken und Interviews haben eine hohe Reichweite und werden in verschiedensten Fachmagazinen, auch international, publiziert.

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