Das Geheimnis des Präfekten, Kapitel 10

Resigniert wende ich mich ab und schaue mich in der Halle um.

Ich beobachte, wie eine französische Familie aufgeregt diskutiert. Anscheinend ist das Kindermädchen noch nicht da. Alle halten sie ihre Bordpässe in den Händen und warten ungeduldig auf den Check-In. Der Familienvater ist ein eleganter Mann, vielleicht Mitte 50. Unter einem dunkelgrauen Sakko trägt er einen schwarzen Rollkragenpulli, der sich ein wenig über den Bauch spannt. 

Die Gewandtheit seiner Bewegungen, sein selbstsicherer Gesichtsausdruck und seine klare Sprache sollen den Mann von Welt verraten. 

Einige Zeit verharre ich der Nähe dieser Familie und versuche, die Unterhaltung zu verstehen. Endlich nehme ich all meinen Mut zusammen und spreche den Familienvater an:

„Bitte entschuldigen Sie meine Indiskretion, ich höre Ihnen schon eine Weile zu.“

„Ah ja?“, antwortet mein Gegenüber und richtet dabei einen strengen Blick auf mich.
„Ja, mein Herr. Ich versuche verzweifelt einen Flug nach Paris zu bekommen, leider ist alles ausgebucht, es gibt keine Tickets mehr.“

„Und was bitte wünschen Sie von mir? Wie soll ich Ihnen helfen?“

„Ich habe aus dem Gespräch vernommen, dass es jemanden gibt, auf den Sie warten, sollte diese Person nicht kommen, bin ich bereit, Ihnen den doppelten Preis für das Ticket zu bezahlen, falls Sie es besitzen sollten.“

Ich spüre, wie mich der Mann mich mit gesenkten Augenbrauen kritisch von oben bis unten mustert.

Er hebt seinen Kopf und ruft laut in die Runde:
„Was ist mit Helène, wo bleibt sie denn?“ 

Seine Frau, ein blondes Wesen, leicht füllig um Taille blickt ihren Mann mit weit aufgerissenen Augen an und erwidert gereizt:
„Ich weiß es nicht, mein Lieber, ich versuche sie ständig zu erreichen, aber sie will einfach nicht abheben, auch auf WhatsApp antwortet sie nicht, ich mache mir Sorgen.“

„Wenn sie nicht bald kommt, werden wir ohne sie fliegen müssen, “ ruft der Mann mit einem leichten Zittern in seiner Stimme und flüstert mir sogleich zu:

„Den doppelten Preis für das Ticket?“
„Ja, den doppelten Preis“, antworte ich in festem Ton.
„Wie wäre es mit dem dreifachen des Preises?“

Diese, mit allergrößter Natürlichkeit vorgetragene Entgegnung bringt mich für einen Augenblick aus dem Konzept.

Die Szene ist tragisch und gleichzeitig komisch. 

Es geht um eine Person, die der Familie bekannt ist, um jemanden, der sich täglich um die Kinder der Familie kümmert. Wahrscheinlich kocht Helène ihr Essen, bringt sie in’s Bett und weckt sie auf, wenn es morgens in die Schule geht.

Der Zufall erzeugt manchmal schreckliche Bilder. Phantasie und Wirklichkeit scheinen zu verschmelzen.

Habgier verdrängt das Menschliche, das ist nicht neu, die unmittelbare Konfrontation damit ist aber immer wieder erstaunlich.

„Einverstanden“, sage ich ungerührt. Wir bringen das Geschäft schnell über die Bühne und ich haste zum Schalter der Air France, um das Ticket umzubuchen.

Hinter mir höre ich nur noch, wie der kleine Junge, mit seiner markerschütternden, hellen Stimme, verzweifelt nach Helène ruft:
„Helène, wo ist Helène? Ich will zu Helène, wo ist meine liebe Helène?

„Frage deinen Vater“, murmle ich noch und gehe weiter.

Am Terminal drängen sich die Menschen auf engstem Raum. Ihr Geschrei wird von der gläsernen Halle, tausendfach verzerrt, mit dem Klang einer kakofonischen Angstsinfonie wiedergegeben.

über den Autor

Mathias Guthmann

Mathias Guthmann schreibt für kulinarische und literarische Zeitschriften und den Schachsport.
Seine Essays und Kurzgeschichten, Kritiken und Interviews haben eine hohe Reichweite und werden in verschiedensten Fachmagazinen, auch international, publiziert.

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