Das Geheimnis des Präfekten, Kapitel 10

Solche Gedanken mache ich mir unterwegs zum Flughafen. Es muss einen Flug nach Europa geben, ganz gleich wohin, nur schnell entfliehen, das nackte Leben retten. Vielleicht Nina finden.

Wir fahren unter einer dichten Regendecke hindurch, an den Straßenrändern ergießen sich Ströme von Wasser und Schlamm. Das Auto lässt das Wasser in Fontänen hoch spritzen. Plötzlich stehen wir im Stau, jeder will so schnell wie möglich aus der Stadt raus. Im Radio hört man, dass der Luftverkehr wegen Corona weltweit eingeschränkt wird und nur noch wenige Fluglinien verkehren.

Italien scheint von der Seuche besonders betroffen zu sein. In Bergamo werden die Toten mit LKWs abtransportiert und in Gruben verscharrt, man schließt die Grenzen, es gibt Ausgangsbeschränkungen.

In Frankreich sterben die Menschen vor den Krankenhäusern, weil es keine Behandlung gibt. Nur in Nordamerika scheint es keinen Virus zu geben, warum nur?

Endlich hält das Taxi in Haneda. Vor dem Eingang gibt es eine Schlägerei, ich laufe an den Massen vorbei und versuche den Schalter der Air France zu erreichen.

Jemand zieht mich an der Schulter. 

„Was bitte wollen Sie?“ Frage ich und blicke dabei ein breites Gesicht mit dicht aneinander gedrängten Augen, die von buschigen Augenbrauen eingefasst sind. Der Mann hat eine Größe von knapp zwei Metern. Sein massiger Körper ruht auf großen, von Hawai-Shorts umhüllten Beinen.

„Bist du der du bist?“ Fragt er mich.

Ich überlege kurz und antworte:“Ja natürlich“. Im gleichen Augenblick ramme ich ihm mit voller Wucht das Knie in die Eier.

Er will mir ans Ohr greifen, erwischt dabei aber einen Gepäckträger, der zum falschen Zeitpunkt meinen Weg kreuzt und statt meiner sein Ohr lassen muss.

Die Abflughalle ist die Hölle auf Erden. Es stinkt nach Verzweiflung. 

Endlich ein freier Schalter. 

„Gibt es noch einen Flug nach Paris?“

Der Mann am Schalter blickt mich mit Röntgenblick an.

„Nein“, sagt er teilnahmslos.

„Alle Klassen ausgebucht?“, frage ich und blicke ihm dabei fest in seine Augen.

„Ja, alles ist ausgebucht, es gibt keine Sitze mehr“.

„Auch erste Klasse?“

„Ja, auch erste Klasse“.

über den Autor

Mathias Guthmann

Mathias Guthmann schreibt für kulinarische und literarische Zeitschriften und den Schachsport.
Seine Essays und Kurzgeschichten, Kritiken und Interviews haben eine hohe Reichweite und werden in verschiedensten Fachmagazinen, auch international, publiziert.

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